Die Würde des Menschen ist unantastbar…
- Seebee
- 29. Aug. 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Okt. 2023

… so steht es zumindest in Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Sie ist von Seiten der staatlichen Institutionen zu achten und zu schützen. Und da steht auch, dass sich das Deutsche Volk, also wir alle, uns darum zu bemühen haben, denn sie ist Teil eines Wertekodexes, auf dem unser gesellschaftliches Miteinander basiert.
Soweit die Theorie – doch in der Interaktion mit anderen bleibt es letztendlich meist jedem selbst überlassen, ob er sich selbst einer Überschreitung von Grenzen anklagt oder nicht. Es sei denn, sei Gegenüber übernimmt das Klagen. In der nachfolgenden Geschichte hat leider keiner geklagt.
Als ich von 10 Jahren in unser Haus gezogen bin, gab es außer mir drei weitere Frauen, die eine der mieterfreien Wohnungen erworben hatten. Die restlichen sechs Wohnungen waren von Menschen bewohnt, die schon seit Jahrzehnten hier lebten und die feste Zusicherung des Hauseigentümers hatten, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändern würde. Nur im Falle eines Auszugs sollte die Wohnung - so wie unsere zuvor - veräußert werden.
Doch plötzlich begann ein anderer Wind zu wehen. Die Bewohner erhielten freundliche Anfragen, ob man nicht bereit wäre, Kaufinteressenten die Wohnung zu zeigen – selbstverständlich würde es sich im Falle eines Kaufes auch nur um einen Vermieterwechsel handeln, ein Weiterbestehen des Mietverhältnisses bliebe vertraglich garantiert.
Dazu muss erwähnt werden, dass drei dieser Mieter bereits über 80 waren. Hier wäre jede Eigenbedarfsklage im Rahmen der Milieuschutzfrist reine Geldverschwendung gewesen. Jeder neue Eigentümer musste sich also zwangsweise in Geduld üben, bis der Zahn der Zeit soweit genagt hatte, dass entweder das Altenheim oder das Bestattungsunternehmen die neuen vier Wände stellten. In allen drei Fällen war es Gott sei Dank letzteres, denn keiner von ihnen wollte etwas anderes, als mit den Füßen voraus die Wohnung verlassen, in der sie seit 1954 – dem Baujahr unseres Hauses – lebten.
Der Jüngste von ihnen war Herr Jablonski – Helge Schneider hätte über ihn gesagt: so hoch wie breit wie tief – der als Kind mit seinen Eltern in diese Wohnung gezogen, hier aufgewachsen und mangels Ehe und Kinder auch niemals ausgezogen war. Anders als die beiden reizenden alten Witwen - Frau Hermann und Frau Schinke - gehörte er aber auch nicht zu den Mitbewohnern, denen ich gerne bei Einkäufen, Schriftverkehr mit Ämtern oder ähnlichem zur Seite gestanden hätte. Obwohl es angesichts seiner Körpergröße von ca. 1.60 und einem geschätzten Gewicht von mindestens 130 kg zumindest bei ersterem hätte hilfreich sein können. Sein Auf- und Abstieg auf den Treppen zwischen dem 3. Stock und dem Erdgeschoss war immer lautem Keuchen und vielen Pausen begleitet. Schreiben konnte er hingegen noch sehr gut – vor allem zweideutige Briefe, die er mit Vorliebe auf seinem Weg nach unten meiner Nachbarin, die iranische Wurzeln hat, auf den Fußabtreter legte. Er stand nämlich auf „exotische“ Frauen. Daher hatte er auch eine „Untermieterin“. Eine liebenswerte Thailänderin um die 50, die ihm – zum Dank für das Mietverhältnis – den Haushalt zu führen hatte. Was das alles beinhaltete, möchte ich auch heute nicht so genau wissen. Ich weiß nur, dass sie jeden von uns immer bat, ihr Bescheid zu geben, falls wir Kenntnis von einem günstigen Zimmer hätten. Sie war Krankenpflegehelferin und ihr Gehalt, von dem sie so viel als möglich nach Hause überwies, erlaubte ihr keine großen Träume.
Also nein, er war kein liebenswerter Zeitgenosse. Und er wurde dann auch sehr krank. Seine Untermieterin übernahm neben ihrer Arbeit und der Haushaltsführung auch noch die Pflege. Innerhalb von einem Jahr waren von den 130 kg nur noch etwa 60 übrig und in regelmäßigen Abständen stand ein Krankenwagen vor der Tür, der ihn kurzfristig mitnahm.
Es war ein heißer Sommer gewesen, an dem sich an einem Sonntagmorgen vor unserem Haus eine ganze Traube von Menschen versammelte. In ihrer Mitte der Hauseigentümer, der auch mir meine Wohnung verkauft hatte. Und dann machten sie sich alle auf in den 3. Stock, um die Wohnung von Herrn Jablonski zu besichtigen.
Als sie wieder unten auf der Straße standen und mir Wortfetzen wie „mein Gott hat das da oben gestunken“ und „schrecklich, der alte Mann, der da nackt nur mit seiner Windel im Rollstuhl saß“ durch das Küchenfenster entgegenwehten, konnte ich nicht mehr länger an mich halten. Ich schoss durch das Treppenhaus auf die Straße, baute mich vor dem Eigentümer auf und ließ eine Schimpftirade bezüglich unfassbarer Respektlosigkeit und gieriger Leichenfledderei vom Stapel.
„Was wollen Sie eigentlich?“, fragte mich eine der Kaufinteressentinnen, eine gepflegte blonde Mittfünfzigerin, die mit ihrem Mann neben ihrem teuren schwarzen Benz stand. „Sie haben hier doch auch eine Wohnung gekauft und nicht gefragt, was mit den Vormietern war! Wir wollen die Wohnung gerne irgendwann in der Zukunft für uns oder unseren Sohn, was ist daran verwerflich!“ „Und der Mieter hat der Besichtigung zugestimmt“, ergänzte ihr Mann.
Ich fühlte, wie meine Augen feucht wurden und ich jetzt gleich vor Wut und Hilflosigkeit in Tränen ausbrechen würde, drehte mich um und ging nach oben.
Zwei Monate später kam der Krankenwagen zum letzten Mal und fuhr ohne Herrn Jablonski weg. Die Untermieterin musste auch ausziehen und monatelang dröhnte Renovierungslärm durch das Haus. Die neuen Eigentümer waren übrigens die mit dem Benz. Selber eingezogen sind sie nie, auch ihr Sohn nicht. Stattdessen haben sie die Wohnung zum Zweck einer angemessenen Rendite vermietet…


