Sign of the Times, Kapitel II: Platz da… !
- Seebee
- 11. Sept. 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Feb. 2024

2. Die Babboe-Seuche
Ich brauche mein Auto eigentlich nur für die Fahrt zur Arbeit. Lebend am Görli, arbeitend im brandenburgischen Speckgürtel von Berlin, habe ich jeden Tag die Wahl zwischen ca. 40 min. für einen einfachen, staufreien Weg mit Volvi, was dank antizyklischer Fahrt – ich raus, alle anderen rein bzw. umgekehrt -auch in der Regel der Fall ist, oder mindestens eineinhalb Stunden mit den Öffis… .
Und nein, das liegt ausnahmsweise mal nicht an Berlin. Aber sobald man die Tarifzone C betritt und dann auch noch auf Busanbindungen im durchaus seeeeehr nahegelegenen Umland angewiesen ist, ist es so ähnlich wie in meinem Referendariat.
Zur Erklärung: Ich komme nicht aus Berlin, sondern aus Süddeutschland, wo mangelhafte Busanbindung in ländlichen Regionen vor 35 Jahren noch der Regelfall waren. Und ich hatte mit Mitte 20 noch immer keinen Führerschein, da ich überzeugte Radfahrerin, Öffinutzerin und notfalls auch Tramperin war.
Doch kurz vor meinen 1. Staatsexamen malte mein Vater Gruselgespenster an die Wand: „Und was, wenn sie dich in den Nordschwarzwald schicken? Morgens um vier dann den Postbus nach Freudenstadt? Ist es das was dir für die nächsten eineinhalb Jahre vorschwebt?“
Nein, das war es nicht – das wäre ehrlicherweise der blanke Horror für mich als bekennende Nachteeulr gewesen! Also zog ich dann doch die Annehmlichkeiten des eigenen fahrbaren Untersatzes vor. Auch wenn mein Referendariat schließlich nur wenige Minuten von meiner Wohnung entfernt lag und ich jeden Morgen aufs Fahrrad stieg. Aber das konnte ja damals keiner wissen.
Zurück zur Gegenwart. Dank Baustellen und Schienenerneuerung im öffentlichen Netz ist das Gruselgespenst für einige meiner KollegInnen heute Realität. Aber da ich nicht über den maroden öffentlichen Nahverkehr in und um Berlin schreiben, sondern über meine Top 2 der Anzeichen von Gentrifizierung am Görli, gehts jetzt vor meiner Haustür los...
Erste Gefahrenstelle morgens um 7:15 (ich noch etwas schlafbenommen): „Die Achse des Bösen“!!! Eigentlich ist es nur die Parkausfahrt auf der südlichen Seite, aus der einige Fußgänger und viele Radfahrer die Wiener Straße überqueren, um dann die Glogauer Straße in Richtung Hermannplatz zu nehmen. Aber sie ist eine sehr frequentierte Achse, die vor allem letztere Verkehrsteilnehmer aus Mitte und Friedrichshain oder auch einfach nur vom nördlichen Zipfel von SO36 auf unsere Seite des Kiezes befördert.
Für die Fußgänger gibt es einen Zebrastreifen kurz hinter dem Parkausgang, der auch mehrheitlich genutzt wird. Die Fahrradfahrer müssten eigentlich warten, bis der vorfahrtsberechtigte Verkehr auf der Straße weg ist…
Doch was dem brandenburgischen Kind der mehr oder weniger liebevoll bezeichnete „Muttipanzer“ – sprich Hochglanz-Pseudo-SUV, der nicht nur von Muttis, sondern auch von Vatis gefahren werden darf und wird – ist dem Berliner Gör das „Kampfpanzer-Babboe“.
An den Pedalen Mutti oder Vati mit gestresst verkniffenem Gesicht, das von der tickenden Zeituhr zeugt, im Transportkorb ein bis drei Kids.
Ungeachtet der Verkehrsregeln oder der potentiellen Gefährdung der Kinder preschen sie über die Straße, als stünde da irgendwo ein Schild, das klaren Vorrang von Fahrradfahrern signalisiert. Aber da wir mittlerweile alle daran gewöhnt sind, passiert eigentlich auch nichts. Wir stehen nur manchmal kurz vor dem Herzinfarkt, wenn wieder so ein Babboe mit 50 Sachen über die Straße zischt, fluchen einmal, stellen die Frage nach einem gesetzlich vorgeschriebenen Babboe-Elternführerschein (schließlich gibt es sowas auch für Kampfhundehalter) und atmen einmal tief ein und aus.
Gefahrenstelle zwei (5 Minuten später und durch den ersten Schreckmoment hellwach): Mein Fahrtweg zweigt nun am Kanal ab. Hier gibt es ein Linksabbiegersignal, das signalisiert, der Gegenverkehr hat jetzt Rot und du hast ca. fünf Sekunden Zeit entspannt nach links abzubiegen. Nur interessiert das den unter Zeitdruck stehenden Babboe-Fahrer wenig. Ampel rot, Kind im Korb, schon ziemlich knapp mit der verbleibenden Zeit zwischen Ablieferung in der Kita und dem wartenden Chef… also zack, rüber… . So ein Kind im Korb ist ja eigentlich wie Blaulicht und Sirene beim Krankenwagen. Da hält jeder an.
Gefahrenstelle drei (mehr als hellwach, nachdem es mir endlich gelungen ist, abzubiegen): Babboe-Rennen entlang des Kanals... . Welcher Vati, welche Mutti hat den größeren Zeitdruck, die kräftigeren Waden oder den stärkeren E-Bike-Motor?
Und dann kommt auch noch der dicke BVG-Bus über die Lohmühlenbrücke, der in der Kurve immer eindreiviertel der beiden Spuren braucht.
Wer hat nun die besseren Nerven? Der Busfahrer oder der Babboe-Hamster, denn für beide gilt: Time is money! Augen zu und durch!
Die Hamster sind allgegenwärtig und sie haben mittlerweile Vorfahrt. Logisch, keiner will und wird, wenn es sich irgendwie verhindern lässt, ein Kind gefährden. Und auch wenn nach der Abgabe der Blagen in Kita und Schule manchmal der Förderkorb leer ausschaut, weiß man ja nie so genau, ob sich unter dem Rucksack oder der Einkaufstasche oder dem Bierkasten nicht doch ein kleines Menschenwesen versteckt. Und oft sitzt da auch ein Hund drin.
Was hat das jetzt mit Gentrifizierung zu tun, mag man sich fragen. Auch hier hilft Dr. Google weiter. Die Sparvariante mit eigener Pedalkraft gibt’s schon für knapp Dreitausend Euronen. Der Standard liegt so zwischen fünf und sechs und ist nach obenhin offen.
Möglich, dass weder Vati noch Mutti ein Auto haben oder brauchen und daher genug Geld fürs Babboe bleibt. Da sie allerdings nur früh morgens und am Nachmittag gehäuft auftreten, zweifle ich daran. Aber falls doch, hat ja MILES im Notfall eines... .
Manchmal sehe ich aber auch noch das, was ich von früher kenne – den guten alten Kindersitz - entweder vor der tretenden Person oder dahinter oder auch beides.
Er ist in unserem Kiez mittlerweile ein Zeichen von „ich habe nicht so viel Geld“ geworden, vergleichbar dem Tatbestand als SchülerIn keine Nike Air Jordans zu tragen.
Vielleicht ist er aber auch Zeichen eines individuellen Selbstbewusstseins, das es nicht nötig hat, sich durch Statussymbole als Besserverdiener zu outen…


