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Gentrifizierung – oder wer ist hier eigentlich schuld?

  • Seebee
  • 25. Aug. 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. Sept. 2023


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Das erste, was die Suchmaschine unter dem Schlagwort Gentrifizierung ausspuckt, ist: „Verdrängung einkommensschwächerer Haushalte durch wohlhabendere Haushalte in innerstädtischen Quartieren“, verursacht durch steigenden Mietkosten.

Ok, das ist nun nichts wirklich Neues. Als Wahlberlinerin mit einer fast 30 Jahre langen Mietreise durch die unterschiedlichsten Stadtteile (Charlottenburg, Zehlendorf, Treptow, Friedrichshain, Neukölln) war eines über all die Jahre nicht zu übersehen – die Mieten werden immer teurer und teurer. Ähnlich sieht es aber auch mit Lebensmitteln, Strom, Gas, Sprit, Kranken- und Pflegeversicherung und Tierärzten aus – eigentlich mit so ziemlich allem. Wer seine Mietkosten senken möchte, hat aber zumindest die Wahl in unattraktivere Bezirke mit sozialen Brennpunkten oder schlechterer Infrastruktur zu ziehen, von allem anderen ist man überall betroffen.


Jetzt war ich vor allem neugierig, wie unserer Mietpreise sich eigentlich im EU-Vergleich darstellen und ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass wir in der Top Ten ganz weit oben rangieren. Leider weit gefehlt – im Gegenteil. Nur in Dänemark, Liechtenstein und Griechenland liegt man unter unseren vergleichsweise moderaten 20,4% des monatlichen Durchschnittseinkommens für monatliche Mietkosten. Spitzenreiter sind die Türkei mit etwa 79%, Irland mit 73% und Portugal mit 59%. Und selbst in Ländern wie Kosovo und Albanien schlagen 56% des monatlichen Durchschnittseinkommens für eine Mietwohnung zu Buche.


Also Jammern auf hohem Niveau? Nein, ganz so einfach ist es leider nicht! Denn zum einen handelt es sich hier um reine Durchschnittswerte. Fiktive durchschnittliche Einkommen, die von einer relativ geringen Zahl an Top-Verdienern auch entsprechend hochgepusht werden und ebenso fiktive Mietkosten. Im Sektor der „Einkommensschwachen“, der gut ein Viertel unserer Bevölkerung ausmacht, liegt die tatsächliche Mietkostenbelastung bei 40%. Und bei Haushalten, die ihre Wohnung nach 2019 angemietet haben, bei 29,5%. Dazu kommt, dass wir Deutschen die Mietweltmeister sind. Mit mehr als 53% leben in keinem anderen Europäischen Land so viele Menschen in einer Mietwohnung, wie bei uns! Im miettechnisch deutlich teureren Portugal sind es dagegen nur 22%, die auf angemieteten Wohnraum angewiesen sind.

Was kann ich nun aus der Datenlage schlussfolgern?


Ganz nüchtern und mathematisch betrachtet kommt also für die Hälfte unserer mietenden Bevölkerung Eigentum aus finanziellen Gesichtspunkten erst gar nicht nicht in Frage. Das deckt sich ja auch durchaus mit dem Mieteranteil in anderen Ländern. Was aber ist mit dem restlichen Teil? Und bevor jetzt irgendjemand glaubt, mir mit anderen statistischen Daten in die Parade fahren zu müssen, möchte ich betonen, dass diese Schlussfolgerungen auf nichts anderem beruhen als meinen persönlichen Erfahrungswerten im Hinblick auf Bankberater, Freunde, Nachbarn und Kollegen.

  1. Das erste, was dir in deinem beginnenden Arbeitsleben widerfährt, ist der freiwillig angebotene Termin bei deiner Bank. Nein, es geht hier nicht darum, dass dein Dispo hoffnungslos überzogen ist, sondern darum, dass der Algorithmus festgestellt hast, dass du jeden Monat mehr Geld einnimmst, als du ausgibst. Man bietet dir also einen Kredit für irgendwelche eigentlich nicht nötigen Anschaffungen an: eine neue Couchgarnitur, ein Auto – oder eine Eigentumswohnung. Lässt sich mit dem, was du monatlich hast, ja auch problemlos stemmen. Und falls nicht, gibt es ja auch noch die Aussetzung der Tilgung.

  2. Dann tauchen die ersten Kinder im Freundeskreis auf. Die Wohnung wird perspektivisch also zu klein, das Umfeld zu wenig kinderfreundlich. Patentlösung: schicke Wohnung im Speckgürtel oder in einem der „kinderfreundlichen“ Bezirke, wo man an jeder Ecke Latte-Macchiato-Mütter zum Erfahrungsaustausch trifft.

Wer es sich jetzt leisten kann, der schlägt zu! Die eigenen vier Wände sind Gold wert. Kein Stress mehr mit Eigenbedarfskündigung, nervigen Nachbarn. Die Altersvorsorge ist auch nicht zu verachten und schließlich weiß man ja nicht, wie sich die Blagen im späteren Überlebenskampf schlagen. Vielleicht sind sie ja später auch auf die Wohnung oder das Häuschen angewiesen, bevor sie unter die Räder kommen…


Wenn ich mich nun unter diesen potentiellen Eigentumskandidaten, die ich persönlich kenne, umsehe und schaue, wer warum in einer Mietwohnung lebt, so haben lassen sie sich zu mindestens einer, der nachfolgenden Kategorien zuordnen:

  • Sie weisen einen brüchigen Lebenslauf auf – persönliche Schicksalsschläge, abgebrochene Beschäftigungsverhältnisse, Krankheit etc.

  • Sie haben eine Beschäftigung, deren Fortbestand nicht wirklich gesichert ist.

  • Sie haben sich aus einer langjährigen Beziehung entweder freiwillig oder unfreiwillig verabschiedet.

  • Sie kommen aus dem Ausland, haben einen gutdotierten Job bei einem Startup und streben eine ein- bis zweijährige Anstellung an, bis der nächste noch besser bezahlte Job in einer anderen hippen Metropole winkt.

  • Sie sind Freigeister, die sich niemals an einen Ort langfristig binden wollten

  • Sie sehen Besitz als Statussymbol, mit dem sie sich nicht identifizieren können

  • Sie warten noch immer auf das Erbe ihrer Eltern, das ihnen einen unfinanzierten Kauf ermöglicht

Der höchste Prozentsatz liegt hier in meinen ersten drei Kategorien, dicht gefolgt von der vierten und marginal bei den letzten beiden.


Also bleibt unterm Strich der ernüchternde Fakt: Wer bei uns nicht wirklich jeden Monat deutlich mehr zum Leben übrig hat und auch für die Zukunft weiß, wo sein Haus wohnt, hat eher geringe Ambitionen, sich ein solches zuzulegen – und ist damit ein willkommenes Opfer auf dem Markt der Mietspekulanten. Denn die wissen, wie sie aus deinen Mankos möglichst viel Geld machen können. Wenn du nicht mehr zahlen kannst oder weiterziehen möchtest, dann wartet schon der nächste um die Ecke, der das nötige Kleingeld hat.


Werfen wir einen Blick auf ein weiteres Zitat aus dem Internet und ich versuche mal die Messlatte für unseren Kiez anzulegen:


„Wie erkenne ich Gentrifizierung?“

  • Nähe zu anderen urbanen Vierteln – ja schon, Friedrichshain und Mitte mal gleich um die Ecke

  • wachsende Kunstszene – Träumt weiter… vielleicht vor 10 Jahren, mittlerweile setzen sich die kreativen Köpfe hier eher dafür ein, dass der Kiez für Menschen und Kinder lebenswert bleibt.

  • gute Infrastruktur – Bis auf einen mega überteuerten Edeka am Maybachufer und einer geplanten gruseligen Straßenbahnachse durch den Görli, die dann die Partytouristen von Friedrichshain nach Kreuzberg bringt, ist hier nichts an neuer Infrastruktur entstanden

  • sinkende Kriminalitätsrate – LOL

  • Zustrom des Einzelhandels – Im Gegenteil, die kleinen alteingesessenen Geschäfte sind durch hohe Mieten von ihrer Existenz bedroht. Neue hippe Geschäfte und Restaurants können hier kaum Fuß fassen, weil ihre Verkaufspreise tatsächlich nur von wirklich Gutverdienern bezahlt werden können (ein Donut für 4,50 ???) und sie von den alteingesessenen Kiezbewohnern auch bei vorhandener Finanzkraft boykottiert werden.

  • schneller Verkauf – Er war wohl schon mal schneller, aber ja, er läuft noch immer.


Fazit: Wer auch immer sich das ausgedacht hat, neigt zur oberflächlichen Pauschalisierung.


Das nächste Zitat aus dem Internet hat mich besonders berührt: „Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, der ist mit daran schuld.“

Einfach deshalb, weil ich mich strenggenommen dann auch zu ihnen zählen muss. Ich habe eine Eigentumswohnung, ich gehöre zu den gutverdienenden Akademikern und ich habe sie in einem Bezirk gekauft, der zunehmend von Entmietung bedroht ist.

Als ich die Wohnung vor 10 Jahren gekauft und bezogen habe, war es unser wunderschöner großer Hinterhofgarten, in den ich mich im Namen meines freilaufsüchtigen Katers verliebt hatte. Und es hat mein schlechtes Gewissen beruhigt, dass die vorherigen Mieter bereits vor mehr als einem Jahr ausgezogen waren. Aber da der Eigentümer den möglichst gewinnbringenden Verkauf angestrebt hatte, wurde die Wohnung in der Zwischenzeit auch nicht neu vermietet. Was das bedeutet sehe ich gerade in unserem Nachbarhaus. Jede Wohnung, aus der die Mieter ausziehen, wird nicht mehr neu vermietet. Und dabei ist der Wohnraumbedarf in der Innenstadt enorm. Aber eine leere Wohnung im Milieuschutzgebiet bringt deutlich mehr als eine vermietete, in der der zukünftige Eigentümer eine Wartezeit von 10 Jahren hat, bevor er erfolgreich auf Eigenbedarf klagen kann. Davor liegt der Mietpreis bei 4,23 pro Quadratmeter. Also nicht wirklich das attraktive Renditeobjekt.

Ich könnte jetzt zu meiner Entschuldigung anführen, dass ich das damals nicht so wirklich an mich rangelassen habe und dass ich ja schließlich auch hier leben wollte und es immer noch tue. Aber dennoch – ich bin ein Gentrifizierer. Selbst wenn ein anderer schnell meine Stelle angetreten hätte, wenn ich damals nicht innerhalb von wenigen Tagen gesagt hätte: „Ja, ich will!“

Das einzige, was ich wirklich ins Feld führen kann, ist, dass es meinem Haus gutgetan hat, dass es mich hier gibt. Sie hätten es deutlich schlechter treffen können. Denn ich habe versucht die Fäden zwischen Mietern und Eigentümern zusammenzuhalten, den alten und bedürftigen Menschen geholfen, wann immer sie Unterstützung brauchten – und ich bemühe mich jeden Tag um einen wachen Blick und Zivilcourage, weil mir dieser Kiez und die Menschen hier nicht gleichgültig sind.


Abschließend das, was mich bei meiner Recherche vielleicht am meisten verblüfft hat – entnommen der Website #whatthefact und zusammengetragen von Katharina Kutsche 2018


  • Gentrifizierung gab es schon im alten Rom: Vor gut 2000 Jahren war Rom „the place to be“. Mehr als eine Million Menschen lebten dort, vielfach in Mietskasernen. Dann kamen immer mehr Zuzügler, die die Mietpreise nach oben trieben und Investoren anlockten. Also ließen auch damals schon Vermieter ihre Objekte verfallen bis sie abbruchreif waren, um dann neue Luxuswohnungen zu bauen, die sie für fette Denare an wohlhabende Interessenten verkaufen oder vermieten konnten.

  • 1990 zahlte man in Kreuzberg im sanierten Altbau noch knapp 3 € pro Quadratmeter, was weit unter dem Berliner Durchschnitt lag. 2013 waren es auch noch nur 5,65 €. 5 Jahre später lag der Durchschnitt bei 14 €.

  • Nach Kreuzberg zogen in den letzten 5 Jahren 70% mehr Menschen als in andere Berliner Stadtteile.


Fazit: Was hier geschieht ist ganz offensichtlich kein Phänomen der Neuzeit. Der Dreh- und Angelpunkt ist einerseits die Gier von Investoren, die auf renditeträchtige Mieteinkommen setzen, andererseits das Phänomen des „place to be“. Es ist nicht die großartige Infrastruktur, die wunderschöne Umgebung, die geringe Kriminalität, Galerien, Partylocations, gute Schulen und Kitas, naturnah gestaltete Spielplätze, gut ausgebaute Radwege, gute Anbindung an die Öffies, günstige Wohnungen – es ist nur ein realitätsfernes Konstrukt von subjektiver Attraktivität, das unseren Kiez vor einigen Jahren zu einem dieser hippen Orte gemacht hat, in dem viele gerne leben möchten.

 
 

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